Verfasst:
Fr 20 Aug, 2004 11:51
von Numenator
Mit Verlaub ein Quote aus derStandard.at
Josef Haslinger über Fakten und Fiktion, einen Stoff, der keinen literarischen Zugang lässt und sexuelle Kontakte mit Priestern im Stiftskonvikt, das er in den 60er-Jahren besuchte :
Immer wenn in Österreich bekannt wird, dass katholische Priester wieder einmal ihren Sexualtrieb nicht im Zaum halten konnten, klingelt bei mir das Telefon. Das hat mittlerweile Tradition, und das wird wohl Zeit meines Lebens so bleiben. Nach den Vorfällen im Priesterseminar von St. Pölten war es wieder einmal so weit. Ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass ich zu diesem besonderen Status kam.
Im Jahre 1995 wurde der damalige Wiener Kardinal und Erzbischof Hermann Groer beschuldigt, er habe sich, als er noch Erzieher in einem Klosterinternat war, an Zöglingen sexuell vergangen. Ich las die Beschuldigungen und wusste, dass sie stimmten. Ich war selbst in jungen Jahren mit der Sexualität von Priestern in Berührung gekommen. Diese nebelige Atmosphäre, in der sich religiöse Nähe, päda- gogischer Gehorsam, freundschaftliche Gefühle, schleimige Anbiederung und sexueller Erfahrungsdrang unauflösbar miteinander vermischen, kannte ich aus eigener Erfahrung.
Was mich stutzig machte
Dass der Zögling erst fünfzehn Jahre nach den Vorfällen in der Öffentlichkeit damit herausrückte, verstand ich gut. Auch ich hatte lange mit niemandem darüber gesprochen. Was mich jedoch stutzig machte, war das Alter des Missbrauchsopfers. Als die sexuellen Übergriffe stattfanden, war er nämlich kein Kind mehr, sondern schon 18 Jahre alt. In diesem Alter hätte mich kein Priester mehr zu irgendeiner sexuellen Handlung genötigt. Ich hätte ihn an seinem Ding geschnappt und vor den Abt des Klosters gezerrt. Ich war nicht 18, ich war 12 Jahre alt gewesen, als die Priester mich in die Sexualität einführten.
Ein paar Tage, nachdem ich das Interview mit den Anschuldigungen gegen den Kardinal gelesen hatte, rief mich ein Journalist an. Er habe gehört, sagte er, es gebe einen Text von mir, in dem ich beschreibe, wie ein Priester einen Zögling vergewaltige. Ich erklärte ihm, dass es sich um keinen autobiografischen Bericht, sondern um einen fiktionalen Text handle. Das sei ihm klar, sagte der Journalist, er wolle den Text trotzdem lesen.
Na, mach schon, trau dich
Ich hatte die Kurzgeschichte "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" in den frühen Achtzigerjahren geschrieben. Kaum hatte ich sie losgeschickt, wurde mir mulmig zumute. Ich ließ es zu, dass ein fiktionaler Text in faktualen Zusammenhängen gelesen wurde. Ich war drauf und dran, nicht den Text selbst, wohl aber die Leservereinbarung mit dem Text zu ändern. Und damit in gewisser Weise doch den ganzen Text. In der Geschichte berichtet ein Icherzähler, dass er als Klosterzögling von seinem Religionslehrer, einem gewissen Pater G., vergewaltigt wurde. Wörtlich heißt es darin: "Er legte mir sein wulstiges Fleischstück wie eine geweihte Hostie auf die Zunge, lächelte mich an dabei, sagte, na, mach schon, trau dich nur. Ein schaler, nichtssagender Geschmack, ein wenig Ekel. Da stieß es mit einem Mal in meinen Mund hinein, zuckte hin und her, ich konnte ihm nicht mehr entkommen. Mein Kopf wurde von hinten gegen das Haarbüschel gepreßt, es reckte mich, wenn der Religionslehrer auf meinen Gaumen stieß, die Speiseröhre hinabschlüpfen wollte . . ."
In der Folge, so die Geschichte, sei der Icherzähler aus dem Klosterinternat abgehauen, ohne jemandem die Gründe dafür plausibel machen zu können, warum er ins Kloster nicht mehr zurückkehren wolle. Um aber dennoch darüber erzählen zu können, wandte der Text einen literarischen Trick an. Er tarnte sich als ein spätes Geständnis an einen Freund: "Nie habe ich von Pater G. erzählt, aus Angst, man könnte mir anmerken, daß ich sein Kind geblieben bin. Bis heute bin ich diesen Geschmack in meinem Mund nicht losgeworden. Ganz plötzlich, ohne daß ich es im voraus ahne, stellt er sich ein. So auch das letzte Mal, als ich bei Dir war, obwohl ich keinen Mann wüßte, bei dem ich lieber wäre. Da beginne ich alles einzureißen, was eben aufgebaut wurde, komme vom Hundertsten ins Tausendste, nur um diese gemeinsame Ebene loszuwerden."
Was ist eigentlich vorgefallen?
Obwohl ich den Text mit der Anmerkung veröffentlichte, dass es sich um keinen Wirklichkeitsbericht, sondern um eine fiktionale Erzählung handle, hatte ich danach erheblichen Erklärungsbedarf. Man verstand die Anmerkung so, dass der Text nicht exakt wiedergibt, was vorgefallen war. Umso mehr wollte man wissen: Was ist eigentlich vorgefallen? Wer ist Pater G.?
Um Klartext zu sprechen: Pater G. war eine fiktionale Zusammenführung von drei Personen, mit denen ich im Alter von 12 bis 14 Jahren sexuelle Kontakte hatte. Ich bin aus dem Konvikt des Zisterzienserklosters Stift Zwettl nie abgehauen, sondern ich habe immer nur geträumt davon. Die sexuellen Kontakte mit den Priestern haben mich zweifellos verstört, und ich habe tatsächlich lange Zeit darüber mit niemandem gesprochen. Andere konnten darüber sprechen. Und so kam mir mein erster sakraler Sexualpartner, wenn ich das so ausdrücken darf, noch in der Klosterzeit abhanden. Er wurde in ein anderes Kloster, in dem es keine Zöglinge gab, zwangsversetzt. Dass ein Mitschüler seinen Eltern von seinen Erlebnissen erzählt hatte, fand ich mutig. Aber ein wenig hielt ich es auch für einen Verrat.
Ein Priester musste das Kloster wechseln
Der Skandal hielt sich damals in Grenzen. Ein Priester musste das Kloster wechseln. Warum, das hat die Gemeinde nie erfahren. In der Zeitung war darüber nichts zu lesen gewesen. Und was meine Sexualität betraf, so gab es bald zwei andere, die an die frei gewordene Stelle nachrückten. In mir hatten sie die richtige Wahl getroffen. Ich schwieg weiterhin beharrlich. Als ich später zu schreiben begonnen hatte, war mir schnell klar, dass mir ein besonderer literarischer Stoff zur Verfügung stand. Lange Zeit wollte ich einen Roman darüber schreiben. Aber der Stoff sperrte sich. Er war so tief in mir verankert, dass er mir keinen literarischen Zugang ließ. Einerseits war es mir unvorstellbar, darüber auf weniger als vierhundert Seiten sprechen zu können, andererseits fand ich nicht einmal einen Anfang. Und je länger ich wartete, desto fragwürdiger wurde dieses Thema.
Mittlerweile war ich verheiratet und aus der Kirche ausgetreten. Die innere Bedrängnis und Verstörung, die in den Erinnerungen an meine Klosterzeit wach geblieben waren, wurden allmählich von dem Gedanken überlagert, dass es nicht darum gehen könne, den Priestern ihre Sexualität vorzuwerfen. Wie war das, was ich als Kind empfunden hatte mit dem, was ich nun, zwölf Jahre später, empfand und dachte, vereinbar? Da kam mir die Idee mit dem Brief an einen Freund. Aus dem jahrelang herumgewälzten Gedanken an einen Roman war eine Kurzgeschichte von fünf Seiten geworden.
"Der liebe Gott sieht alles"
Zu dieser Zeit lud mich die Salzburger Literaturzeitschrift "salz" ein, einen Beitrag zu veröffentlichen. Ich schickte "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" und bekam als Antwort einen Brief, in dem mir erklärt wurde, dass die Redaktion den Text nicht veröffentlichen könne, weil die Zeitschrift salz von Land und Stadt subventioniert sei und in Salzburg die Kirche in der Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert habe. Interessant an dieser Absage war die Unverblümtheit, mit der sich hier eine Literaturzeitschrift als willfähriger Speichellecker des Erzbischofs outete. Der Text wurde schließlich in einer deutschen Anthologie veröffentlicht, die den Titel trug "Der liebe Gott sieht alles", und später doch auch noch in Salzburg, in der Zeitschrift erostepost, die dem Text auch einen Preis zusprach. Und das wäre es dann auch schon gewesen, hätte ich "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" im Jahre 1995 nicht noch einmal veröffentlicht. Ganz Österreich war mit der Empörung über Kardinal Groer beschäftigt und über andere Priester, die nun ebenfalls beschuldigt wurden, Kinder sexuell missbraucht zu haben. Und ich hatte mich in die Nesseln gesetzt. Man wollte nicht über meine Kurzgeschichte mit mir sprechen, sondern man wollte wissen, wer hinter der Geschichte stehe. Man wollte Namen und Adressen. Man wollte diesen Priestern öffentlich nachstellen. Und ich war nicht bereit sie zu verraten.
Die Kurzgeschichte hatte einen starken moralischen Unterton. Sie war anklagend. Sie sollte die Verstörungen des Kindes zum Ausdruck bringen, aber sie sagte nicht die ganze Wahrheit. Ich muss mir heute eingestehen, dass es viele Möglichkeiten gegeben hätte, die damaligen sexuellen Kontakte abzuwehren und zu unterbinden. Ich habe diese Möglichkeiten nicht genutzt. Im Gegenteil: Ich habe die Kontakte von mir aus gesucht. Nicht angeboten, dazu war ich zu schüchtern, aber gesucht. Und ich habe sie in gewisser Weise als Auszeichnung empfunden.
Es ist nicht nur eine Last
Ich wurde in die geheime, aufregende Welt der Sexualität eingeführt. Ein Penis, der ejakuliert. Wenn man zwölf Jahre alt ist, will man das endlich einmal sehen. Und ich habe es gesehen. Dass es katholische Priester waren, die mir diese Welt eröffneten, mag ungewöhnlich sein. Aber sie waren ja nicht die einzigen. Ich hatte zu Gleichaltrigen und Älteren dieselben Kontakte wie andere auch. Ich war kein sozial gestörtes Kind, das völlig hilflos dem Triebleben sakraler Päderasten ausgeliefert war. Ich war verstört, natürlich, weil ich zu dieser Zeit ja auch noch ein sehr religiöser Mensch war und selbst Priester werden wollte. Aber der Text erscheint mir heute nicht mehr ganz ehrlich, weil er nicht über alle Gefühle Auskunft gibt. Es ist nicht nur eine Last, ein solches Geheimnis mit sich herumzutragen, es ist auch etwas Besonderes.
Und ich verstehe, dass eine Gesellschaft Päderasten keinen Freibrief ausstellen kann. Aber ich weiß auch, dass sie zärtlich sind, fürsorglich, liebevoll und weitaus weniger egoistisch als man sich das gemeinhin vorstellt. Ich wurde von diesen Erwachsenen sicherlich ausgenutzt, aber ich fühlte mich auch ernst genommen. Wir sprachen ja nicht nur über Sexualität. Einer der dreien schrieb Gedichte. Ich kann heute noch eines seiner Gedichte auswendig. Und einmal sprachen wir über das Thema eines Schulaufsatzes, den ich zu schreiben hatte. Als wir uns das nächste Mal trafen, übergab er mir einen maschinengeschriebenen Zettel, auf dem er sich Gedanken zu diesem Thema gemacht hatte. Es waren die Gedanken eines Erwachsenen. Ich baute sie in den Schulaufsatz ein, und da wurden sie plötzlich meine eigenen Gedanken. Sie brachten mich weiter.
Dichtung ist eine Möglichkeit
Ein Grund, warum ich dem Text diese starke moralische Diktion verpasste und warum ich es zuließ, dass der Text im Zusammenhang mit der Groer-Affäre noch einmal veröffentlicht wurde, war meine spätere Abneigung gegen die Kirche. Was ich erlebt hatte, ließ sich zu einem starken Argument zuspitzen. Und das tut der Text. Auf seine Weise. Die Fiktion steht nie jenseits des faktualen Geschehens. Sie ist auch ein realer Wirkfaktor. Dichtung ist auch eine Möglichkeit, sich zu wehren.
Und wenn man sich erfolgreich gewehrt hat, was dann? Dann tritt einem der Werkzeugcharakter von Dichtung plötzlich deutlich vor Augen. Dann kann man erkennen, dass Dichtung nicht ein Gegenbild, sondern ein Teil der Wirklichkeit ist. Was die drei Priester mit mir taten, war alles in allem sicherlich kein bedeutender pädagogischer Beitrag, aber möglicherweise war der Beitrag anderer, die mich schlugen und nicht einmal als Sexualpartner ernst nahmen, noch deutlich geringer.
Homosexualität und Doppelmoral
Wenn es um praktizierte Sexualität, erst recht um Homosexualität, im Bereich der katholischen Kirche geht, ist die Empörung meist so groß, dass man zwei simple Fragen, die normalerweise auf der Hand liegen, zu stellen vergisst: Wie alt waren die Beteiligten? Und: Wurde jemand gegen seinen Willen in sexuelle Praktiken verstrickt? Beim aktuellen Fall im Priesterseminar von St. Pölten waren alle Beteiligten älter als zwanzig Jahre. Und bislang wurde gegen keinen der Vorwurf der Vergewaltigung erhoben. Der strafbare Tatbestand dürfte sich auf den Download von Kinderpornos beschränken. Das muss verfolgt werden. Nicht weil der Konsum, sondern weil die Produktion von Kinderpornos ein Verbrechen ist und man diese Produktion nur stoppen kann, wenn man den Markt ruiniert. Aber das Hauptproblem ist ein ganz anderes, es ist eines der kirchlichen Moralität. Ich habe gegen die Homosexualität im Priesterseminar von St. Pölten nichts einzuwenden. Ich habe allerdings erhebliche Einwände gegen einen Bischof, der die Homosexualität zum Teufelswerk erklärt.Nicht die Homosexualität, sondern die Doppelmoral der Schwarzröcke zerstört die Kirche.
Das könnte mir eigentlich egal sein. Ist es aber nicht. Wenn ich der Kirche auch in keinem religiösen Sinne mehr verbunden bin, habe ich doch in den letzten Jahren großen Respekt vor ihrer Flüchtlings- und Sozialarbeit entwickelt. Das ist das Werk einer Randgruppe in der Kirche, aber diese kommt als erste unter die Räder, wenn die Austrittswelle aufgrund der desaströsen Moral von Bischöfen wie Kurt Krenn weiter anhält und in der Folge die Finanzmittel neu verteilt werden. Als erstes werden nicht Priesterseminare sondern Flüchtlingsheime geschlossen. Und dann hätte nicht die Sexualität, sondern die kirchliche Doppelmoral ihr Teufelswerk getan.
Ich habe die für mich wichtige Kernaussage mal Rot hervorgehoben
Gruß
Tidoc der aus der Kirche Ausgetretene