Stellen wir uns einmal vor, ein Mitarbeiter des chinesischen Geheimdienstes, nennen wir in Aidéhuá Xuě, hätte der Öffentlichkeit bislang nicht für möglich gehaltene Details über die ganzen Ausmaße der digitalen Schnüffel- und Hackeraktivitäten des chinesischen Geheimdienstes enthüllt. Stellen wir uns nun vor, Xuě habe fluchtartig das Land verlassen und sei auf der Suche nach einem Land, das ihm politisches Asyl gewährt. Wahrscheinlich wäre in diesem Fall bereits ein geheimer Firmenjet der CIA unterwegs, um Xuě schnellstmöglich in die USA zu holen, wo er von Kongressabgeordneten und Senatoren als Held der Freiheit gefeiert würde. Die Wünsche Chinas oder beteiligter Drittstaaten wären in diesem Falle keinen US-Cent wert. Von Jens Berger
Wo sich der NSA-Whistleblower Edward Snowden momentan aufhält, weiß offenbar noch nicht einmal die allwissende Datenkrake des US-Geheimdienstes. Fest steht lediglich, dass die Behörden der chinesischen Sonderverwaltungszone Hong Kong dem immensen Druck der Vereinigten Staaten nicht nachgegeben haben und Snowden trotz eines Haftbefehls aus den USA ohne gültigen Reisepass haben ausreisen lassen. Nach übereinstimmenden Medienberichten hat Snowden heute Nacht Hong Kong in einem Aeroflot-Airbus in Richtung Moskau verlassen. Von dort aus soll er – so die Spekulationen – über Kuba nach Ecuador weiterfliegen, wo er angeblich Asyl beantragt haben soll.
Dem Staat Ecuador steht es selbstverständlich frei, über den Asylantrag eines amerikanischen Staatsbürgers in einem fairen Gerichtsverfahren zu entscheiden. Alleine das Vorhandensein von Guantanamo rechtfertigt schließlich den Anfangsverdacht, dass politische Gefangene in den USA nicht darauf vertrauen dürfen, ein faires Verfahren zu bekommen. Dieser Punkt spielt bei der medialen Berichterstattung jedoch keine Rolle. Die deutsche Presse nimmt es auch gleichgültig hin, dass die USA dem kleinen südamerikanischen Staat nun mit ökonomischen Repressalien drohen. So berichtet SPIEGEL Online [*] betont neutral über die Verhandlungen zu den Zolltarifen auf ecuadorianische Produkte, die im US-Kongress im nächsten Monat anstehen. Gerade so, als sei es das gute Recht der USA, einen Staat, der nicht nach Washingtons Pfeife tanzt, ökonomisch abzustrafen. Kuba kann ein trauriges Lied davon singen – das amerikanische Handelsembargo gegen Kuba besteht bereits seit 1959. Dass alle Jahre wieder die UNO dieses Embargo verurteilt, stört dabei weder die USA noch die westlichen Medien – erst vor zwei Jahren stimmten in der UNO-Vollversammlung 186 Staaten für die Aufhebung des Embargos, nur die USA und Israel stimmten dagegen und drei Inselstaaten im amerikanischen Herrschaftsbereich (Mikronesien, Marshall-Inseln, Palau) enthielten sich. Aber wehe, ein anderer Staat griffe zu solchen Maßnahmen. Der freie Handel ist offenbar nur dann eine heilige Kuh, wenn er westliche Interessen betrifft.
Besondere Privilegien räumen sich die USA auch ein, wenn es darum geht, anderen Staaten offen zu drohen. So scheint niemand damit ein Problem zu haben, wenn US-Außenminister Kerry Russland und China offen mit nicht näher genannten „Folgen“ droht, wenn diese nicht nach der Pfeife der USA tanzen. Bereits am Wochenende ließ das Weiße Haus verkünden, dass Hong Kong „die beidseitigen Beziehungen aufs Spiel setze und Fragen nach dem eigenen Rechtsverständnis aufwerfe“. Interessant. Wie sieht es eigentlich mit dem amerikanischen Rechtsverständnis aus? Denken die USA, es sei ihr gutes Recht, die Kommunikation von Bürgern anderer Staaten abzuhören? Denken die USA, es sei ihr gutes Recht, die Textnachrichten aus chinesischen Mobilfunknetzen abzuhören, sich in die Server der angesehenen Tsinghua Universität zu hacken und Daten des in Hong Kong niedergelassenen Netzwerkbetreiber Pacnet zu entwenden? Dies hat niemand anderes als Edward Snowden der South China Morning Post offenbart. Diese Aussagen haben die Behörden von Hong Kong auch dazu verleitet, in der offiziellen Antwort auf die Auslieferungsanfrage aus den USA, die Amerikanern im Gegenzug dazu aufzufordern, diese Vorwürfe aufzuklären. Chapeau!
Vom seltsamen Rechtsverständnis der USA ist international erstaunlich wenig zu hören. Es scheint so, als gelte international nur das Recht des Stärkeren, wobei die USA sich an gar keine Gesetze, noch nicht einmal die eigenen, zu halten haben. Vollkommen realitätsentrückt klingt beispielsweise das Statement des demokratischen Senatoren Chuck Schumer, der Russland heute mit erhobenem Zeigefinger ermahnt, dass „Verbündete sich nicht so benehmen würden“ und ebenfalls „ernsthafte Konsequenzen“ ankündigt, sollte Russland Edward Snowden nicht ausliefern. Russland weigert sich. Ebenfalls Chapeau!
Wie benehmen sich denn eigentlich Verbündete, Senator Schumer? Spähen Verbündete etwa die Kommunikation von Bürgern verbündeter Staaten aus? Sperren Verbündete Bürger verbündeter Staaten ohne Anklage, ohne Rechtsvertretung und ohne Prozess in orangefarbenen Overalls in Gefangenenlager? Nutzen Verbündete die Infrastruktur verbündeter Staaten, um dort Gefangene – ohne Anklage, ohne Rechtsvertretung und ohne Prozess – zu foltern?
Die USA leben in einer geistigen Parallelwelt, in der allgemein gültige Regeln für alle, nur nicht für die USA selbst gelten. Dies war (nicht erst) zu Zeiten George W. Bushs durchaus bekannt. Obama hat es geschafft, die Weltöffentlichkeit jahrelang mit wohlfeilen Sonntagsreden einzulullen und hinters Licht zu führen. Doch der Fall Snowden zeigt, dass Bush und Obama mehr gemein haben, als wir es uns eingestehen wollten. Der hässliche Amerikaner ist wieder da und er versucht schon wieder, die Welt nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Hoffen wir für Edward Snowden, dass die USA damit nicht durchkommen. Warum stellen sich nicht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Guido Westerwelle vor die Kameras und bieten Edward Snowden politisches Asyl in Deutschland an? Immerhin hat Snowden Machenschaften aufgedeckt, die auch die Rechte Deutschlands verletzen. Hieße Edward Snowden Aidéhuá Xuě, hätte er wohl bessere Chancen, sein Leben in körperlicher Unversehrtheit und Ruhe beenden zu können.